Vermutlich haben die meisten von euch gelernt, dass Perfekt in der gesprochenen Sprache, gewöhnlich im informellen Kontext benutzt wird und Präteritum in der geschriebenen, formellen Sprache, mit Ausnahme von haben, sein und den Modalverben (können, wollen, etc.), die immer im Präteritum stehen.
Das stimmt meistens.
Aber nicht immer.
Ich habe hier mal so ein paar Beispiele aus dem Pdf Bürgernahe Verwaltungssprache zusammengesucht, herausgegeben vom Bundesverwaltungsamt in Köln. Da können wir sicher davon ausgehen, dass es sich durchgehend um formelle Schriftsprache handelt.
Und doch: Perfekt, Perfekt, Perfekt! Seht selbst:
Beispiel 1: Hat das Hochwasser Scheunen, Großviehställe, Maschinenhallen oder sonstige Gebäudeteile beschädigt, die unmittelbar zur Unterbringung von Wirtschaftsgütern dienen? (S. 31)
Beispiel 2: Schreiben vom Gesundheitsamt:
Sehr geehrter Herr Fricke, auf Ihrer Reise nach Brasilien haben Sie sich mit Typhus-Erregern angesteckt. (S. 34)
Beispiel 3: Wir haben für Sie eine Informationsstelle eingerichtet,… (S. 42)
Beispiel 4: Da ich für die Entscheidung über Ihren Antrag nicht zuständig bin, habe ich Ihr Schreiben an … weitergeleitet. (S. 49)
Ich schwöre, in allen diesen Fällen ist Perfekt im formellen Kontext obligatorisch und Präteritum wäre falsch.
Warum?
Perfekt ist auch in formeller Sprache obligatorisch, wenn es einen unmittelbaren Effekt auf die Gegenwart gibt. Anders ausgedrückt: Was da in der Vergangenheit passiert ist, hat jetzt akut eine Wirkung:
Beispiel 1: Der Schaden ist akut spürbar, die Katastrophe ist nicht bewältigt.
Beispiel 2: Herr Fricke stellt jetzt im Moment eine Ansteckungsgefahr für andere Menschen dar.
Beispiel 3: Sie können diese Informationsstelle ab sofort nutzen.
Beispiel 4: Die zuständige Person hat jetzt Ihren Antrag und wird ihn bearbeiten.
Um die Sache noch klarer zu machen, formuliere ich jetzt die Beispiele in Kontexten, in denen Präteritum richtig ist:
Beispiel 1: 2015 schädigte das Hochwasser Scheunen, Großviehställe, Maschinenhallen und sonstige Gebäudeteile. Den Geschädigten wurden auf Antrag staatliche Hilfen gezahlt.
Beispiel 2: Herr Fricke steckte sich auf einer Reise mit Typhus an. Daraufhin stand er unter der Aufsicht durch das Gesundheitsamt, bis er nicht mehr ansteckend war.
Beispiel 3: Wir richteten 2019 eine Informationsstelle ein. Leider mussten wir sie aus finanziellen Gründen bereits 2021 wieder schließen.
Beispiel 4: Wie Sie wissen, leitete ich Ihr Schreiben an Herrn Walther weiter, der den Antrag 10 Tage später ablehnte.
Manchmal wird dieser akute, besonders nahe Effekt des Perfekts auch in der Literatur genutzt. Ein berühmtes Beispiel ist, wie Johann Wolfgang von Goethe das Ende und insbesondere den letzten Satz von Die Leiden des jungen Werther gestaltet hat:
Der alte Amtmann kam auf die Nachricht hereingesprengt, er küßte den Sterbenden unter den heißesten Tränen. Seine ältesten Söhne kamen bald nach ihm zu Fuße, sie fielen neben dem Bette nieder im Ausdrucke des unbändigsten Schmerzens, küßten ihm die Hände und den Mund, und der älteste, den er immer am meisten geliebt, hing an seinen Lippen, bis er verschieden war und man den Knaben mit Gewalt wegriß. Um zwölfe mittags starb er. Die Gegenwart des Amtmannes und seine Anstalten tuschten einen Auflauf. Nachts gegen eilfe ließ er ihn an die Stätte begraben, die er sich erwählt hatte. Der Alte folgte der Leiche und die Söhne, Albert vermocht’s nicht. Man fürchtete für Lottens Leben. Handwerker trugen ihn. Kein Geistlicher hat ihn begleitet.
Es grüßt euch herzlich
Claudia
www.panasera.de